Pressespiegel

Die Handschuhe – Symbol für ein bisschen Hoffnung im Grauen

Am Holocaust-Gedenktag sprach heute Zeitzeugin Dr. Yvonne Koch im Gymnasium. Sie wurde – im Koma liegend – 1945 im KZ Bergen-Belsen gerettet.

Von Thomas Reuter

Das ist kein Allerweltsauftritt. Kein Vortrag, der routiniert gehalten wird. Immer wieder bricht ihre Stimme. Immer wieder stockt sie, macht eine kleine Pause. „Ich wollte nie darüber sprechen“, sagt sie. „Auch heute fällt es mir schwer“, sagt sie. Und doch spricht Dr. Yvonne Koch (82) weiter. Heute vor 72 Jahren wurde das KZ Auschwitz befreit. Heute ist Holocaust-Gedenktag in Deutschland. In der Mensa des Gymnasiums steht Koch vor Schülern der Q12 des Gymnasiums und vor Schülern der Freien Aktiven Schule. Sie ist Zeitzeugin. 1945 wurde auch sie befreit, gerettet. Von einem englischen Soldat im KZ Bergen-Belsen. Elf Jahre war sie damals alt – und lag im Koma auf einer Pritsche in einer Baracke.

Seit einer Dekade gibt es Zeitzeugen-Berichte im Gymnasium

Seit fast zehn Jahren schon gelingt es Klaus-Peter Rex, Zeitzeugen ins Gymnasium zu lotsen. Es sind immer wieder erschütternde Momente und bisweilen mutmachende Situationen, die seither zu erleben sind. Doch selten war es so eindringlich wie heute Morgen. Das ganze Grauen. Die schier unerträgliche Monströsität des Schreckens. Die zehnjährige Yvonne hat sie über Monate in Bergen-Belsen ertragen – und nach der Rettung lange Zeit für sich behalten.

Yvonne lebte in der Slowakei. Ihre Eltern hatten sie in einem katholischen Internat untergebracht. Ihr Vater war Arzt, hatte aus einem Konzentrationslager Geflüchtete behandelt. Ihre Eltern mussten untertauchen.Die SS spürte Yvonne im Internat auf, wollte wissen, wo der Vater ist: „Ich wusste es doch nicht.“ Es ist November 1944 als sie deportiert wird. „Eingesperrt in einem Viehwagon. Zwei Kübel Wasser. Kein Essen. Schreiende Frauen um mich herum. Einge starben auf dem vier Tage langen Transport. Und ich wusste nicht, warum ich da war.“

In Bergen-Belsen wird sie den alten und kranken Frauen zugeteilt. „Ich kannte niemanden. Ich war das einzige Kind. Ich hatte keine Bezugsperson.“ Sie räumt in der Mensa mit den Aussagen auf, in den Lagern sei die Solidarität unter den Internierten groß gewesen. „Ich kann das nicht bestätigen. Ich bin schlecht behandelt worden. Man hat mir die Decke genommen. Mein Essen ist mir gestohlen worden.“

Ihr Bericht ist für den Zuhörer schmerzhaft. Yvonne Koch lässt keine Details aus. Sie dramatisiert nicht. Es sind schmucklose Worte über das Quälen und das Sterben und das bisschen Hoffen. „Ich habe gebetet, dass meine Eltern mich holen.“ Stattdessen erlebte sie, wie beim morgendlichen Zählappell Frauen erschossen wurden, nur weil sie sich bewegten oder im kalten Winter zitterten. Stattdessen sah sie tote Babys in blutigen Klumpen in der Laterine. Stattdessen registrierte sie, wie die Leichenberge größer wurden. „Ich bin da durch gegangen. Meine Mutter hatte schwarze Haare. Jeden Körper mit schwarzen Haaren habe ich umgedreht.“ Ihre Mutter war nie darunter.

Eines Tages hat eine Küchenhilfin der im Dezember 1944 elf gewordenen Yvonne aus Pferdedeckenfäden Handschuhe gestrickt und geschenkt. „Das einzige Stück Herzenswärme in dieser Zeit“, sagt sie. Die Frau habe sie danach nie wieder gesehen. Die Handschuhe waren ihr Schatz.

Im April 1945 wurde Bergen-Belsen befreit. Yvonne war da sehr schwach. Kälte, Hunger – sie lag im Koma, als ein Soldat bei der Durchsicht der Baracken den scheinbar leblosen Körper entdeckte. Aber sie atmete. Als sie später wach wird, „lag ich in einem weißen Bett. Wie im Himmel. Die Menschen waren so freundlich. In meinen Händen hielt ich die Handschuhe.“ Handschuhe, die heute in Bergen-Belsen ausgestellt sind.

Im Juni 1945 hatte sie ihre Eltern in Prag wiedergetroffen. Mit ihnen habe sie nie über Bergen-Belsen gesprochen. Verdrängung. Sie hat studiert – Mikrobiologie. Sie hat geforscht. Sie hat eine Familie gegründet. Sie lebt heute in Düsseldorf. Ihr Mann hat sie ins Gymnasium begleitet. Er schaut seine Frau an, wenn sie spricht, wenn die Stimme bricht…

„Ihr seid nicht schuld für das, was passiert ist“, hatte Rex zur Begrüßung gesagt. „Aber Ihr tragt Verantwortung, dass so etwas nicht wieder geschieht.“